mHealth ist ein sogenanntes “disruptives” Phänomen. Das heißt, es unterbricht, es stört oder verändert. Das mag bedrohlich klingen, vielleicht sogar brutal, aber mHealth kann sowohl ein positiver Störfaktor sein, als auch eine Gefahr oder ein Risiko darstellen. Maßgeblich dafür ist, wie die Technologien unser Leben verändern und beeinflussen. Wenn man mHealth aus einer ethischen Perspektive reflektiert, sollte man in jedem Fall anerkennen, dass es auf gesellschaftlicher und individueller Ebene viel Positives bewirkt. mHealth hat das Potenzial, das Leben zahlreicher Menschen zu verbessern, zum Beispiel indem es die Möglichkeiten für chronisch kranke Patienten erweitert, sich selbst zu versorgen, indem es Menschen bei der Suchtbekämpfung unterstützt oder wertvolle Instrumente zur Kontrolle von Epidemien bereitstellt. Ein breiter Konsens besteht in jedem Fall hinsichtlich der Tatsache, dass mHealth Wandel bringt: Es ist insofern disruptiv, als alte Strukturen und Kategorien umgestaltet, Grenzen und Unterscheidungen verschoben oder aufgelöst und Machtverhältnisse neu definiert werden.
Der Begriff „Ethik“ wird ganz unterschiedlich gebraucht. Wenn wir hier von Ethik sprechen, meinen wir die systematische Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir als Individuen, Gruppen oder (globale) Gesellschaft richtig oder gut handeln. In diesem Sinne geht es in der Ethik nicht in erster Linie darum herauszufinden, welches Handeln Menschen für richtig oder gut halten. Auch geht es nicht primär oder notwendigerweise darum, den Menschen zu sagen, wie sie sich richtig oder gut verhalten. Vielmehr versucht man in der ethischen Analyse, die Auswirkungen dieser Fragen zu verstehen und zu erkennen, was tatsächlich auf dem Spiel steht, wenn wir über das Richtige und das Gute sprechen.
Bei der Ethik von mHealth geht es auch um die Untersuchung der Normen und Werte, die mit der Einführung und Nutzung von mHealth verbunden sind. Eine Diskussion über diese Normen und Werte entsteht oft als Reaktion auf Fälle, auf die wir zunächst mit starker moralischer Intuition reagieren. Das kann beispielsweise sein, wenn Anbieter einer Gesundheits-App versehentlich private Informationen an einen Social-Media-Anbieter oder ein Versicherungsunternehmen weitergeben, mit möglicherweise schädlichen Folgen für die Nutzenden. Oder wenn die Vorteile aus technologischen Entwicklungen ungerecht verteilt sind oder für bestimmte Individuen oder soziale Gruppen als schädlich empfunden werden. Hier kann die ethische Diskussion weiter in die Tiefe gehen.
Diese Einleitung berührt einige der wichtigsten Themen aus der Ethik der mobilen Gesundheit. Ausführlichere Diskussionen finden Sie unter Geschichten und in unserem Blog. Obwohl wir langfristig alle relevanten Themen in unseren Geschichten behandeln wollen, können wir derzeit nur eine Auswahl anbieten, was notwendigerweise zu einer etwas verengten Sicht auf die relevanten Themen führt. Insbesondere haben wir derzeit noch kaum Geschichten mit Bezug zu globalen Dimensionen der Ethik von mHealth. Auch wenn wir bereits an einigen Geschichten über positive Aspekte von mHealth arbeiten, handelt es sich bei den meisten der bisherigen Geschichten eher um mehrdeutige Beispiele, aus denen nicht unbedingt klar hervorgeht, dass eine veränderte Nutzung von Technologien zu positiven Ergebnissen führt. Wir schreiben derzeit weitere Geschichten und freuen uns aber auch über Ihre Ideen und Anregungen.
Schaden und Nutzen
Innovationen zielen darauf ab, Dinge besser zu machen. Wenn neue Technologien nicht in irgendeiner Form zu Verbesserungen führen würden, könnten wir die Arbeit daran auch gleich sein lassen. Die Frage ist aber: besser für wen? Und: besser in welcher Hinsicht? Wenn sich eine App zur Erkennung von Hautkrebs im Frühstadium als unzuverlässig erweist, könnten Menschen gegebenenfalls fälschlich glauben, sie hätten Krebs (sog. False Positives), oder umgekehrt: Sie sind beruhigt, obwohl sie in Wirklichkeit ein Karzinom haben und sich ärztlich behandeln lassen sollten (sog. False Negatives). Sowohl False Positives als auch False Negatives sind eindeutige Beispiele für einen (potenziellen) Schaden durch mHealth.
Wenn Gesundheitstechnologie Menschen schadet, scheint das dem Grundprinzip der Schadensvermeidung zu widersprechen. Primum non nocere, so beginnt der hippokratische Eid: Erstens, nicht schaden. Die Tatsache, dass manche mHealth-Technologien das Potenzial haben, Menschen zu schaden, bedeutet wiederum nicht, dass sie deshalb nicht eingeführt werden sollten. Alle medizinischen Verfahren, Anwendungen und Medikamente haben Nebenwirkungen, die schaden können. Die Frage ist immer, ob der Nutzen gegenüber dem Schaden überwiegt. Leider lautet die Antwort, dass wir das für viele mHealth-Anwendungen noch nicht wissen. Die Angelegenheit wird dadurch noch weiter verkompliziert, dass viele mHealth-Anwendungen nicht als medizinische Produkte klassifiziert werden, sondern eher auf „Freizeit“ oder „Wellness“ abzielen. Die Unterscheidung zwischen medizinischen und nicht-medizinischen mHealth-Anwendungen wirft viele Fragen über die Ziele dieser Technologien auf und darüber, was wir von ihnen erwarten dürfen.
Was ist also das Ziel der Einführung von mHealth – geht es darum, die Gesundheitsversorgung zu verbessern, Geld zu sparen oder Forschung zu betreiben? Versprechen rund um die „personalisierte Medizin“ basieren oft auf einer Mischung dieser Ziele, aber das kann natürlich nicht bei jeder einzelnen Anwendung eingehalten werden. Eine wichtige Rolle spielt auch, dass was für die einen von Nutzen ist, für andere zu Kosten, Belastungen oder sogar Schäden führen kann. Manche dieser Praktiken mögen sogar ausbeuterisch sein, wenn die Belastungen für die Nutzenden in keinem Verhältnis zu den angebotenen Leistungen stehen. Zum Beispiel können Versicherungen Geld sparen, indem sie Daten aus mHealth-Anwendungen verwenden. Dies kommt nicht unbedingt den Nutzenden zugute, wenn die Daten dazu verwendet werden, für manche die Gebühren zu erhöhen. mHealth-Anbieter können auch Forschung durchführen, um Vulnerabilitäten der Nutzenden aufdecken. Diese Art der Datennutzung durch mHealth-Anbieter wirft Fragen zur Datenökonomie auf, insbesondere fragt sich: Wem „gehören“ die Daten und was bedeutet Eigentum in diesem Zusammenhang?
Datenschutz
Diese Frage bringt uns zu den vielleicht bekanntesten ethischen Bedenken im Zusammenhang mit mHealth und vielen anderen digitalen Technologien: Bedenken bezüglich einer Datenverwendung, die in Spannung mit den Persönlichkeitsrechten stehen. mHealth sammelt Unmengen von teilweise sehr sensiblen Daten. Zum Beispiel kann mHealth Informationen über Vorerkrankungen, Schlafverhalten, Menstruationszyklen oder das Sexualleben sammeln. Ein erhebliches Problem dabei ist der derzeitige fast vollständige Mangel an Transparenz hinsichtlich der Frage, was mit diesen Daten geschieht. Es ist nicht immer klar, wer Zugriff darauf hat, was damit gemacht wird und was unternommen wird, um Dritte daran zu hindern, sie zu nutzen oder zu stehlen. Dies sind Fragen zum sogenannten “Daten-Ökosystem”, zur Daten-Infrastruktur, zu Analysen und Anwendungen. Die Allgegenwart mobiler Gesundheitstechnologien prägt dieses Ökosystem in einer Weise, die bestehende Vorstellungen von Vertraulichkeit und der Unterscheidung zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre in Frage stellt. Manövrieren wir uns durch mobile Technologien in einen Zustand der ständigen Überwachung? Wie autonom, also selbstbestimmt, sind wir noch, wenn unsere Körperprozesse ständig aufgezeichnet werden und fremde Menschen in gewisser Weise Macht über persönliche Daten erhalten? Kann eine rasch geklickte Einwilligung den dabei entstehenden Machtasymmetrien tatsächlich entgegenwirken?
Gerechtigkeit
mHealth-Technologien können diskriminierend sein oder zu epistemischen Ungerechtigkeiten führen oder sie verschlimmern. Epistemische Ungerechtigkeiten beziehen sich auf Situationen, wenn Menschen ausgeschlossen werden, deren Stimmen nicht oder nicht genügend gehört werden, oder deren Sichtweise nicht genügend in die Entwicklung der Technologien eingebunden wurde. Algorithmus-generiertes Wissen kann beispielsweise auf einseitigen oder verzerrten Daten basieren, was zu fehlerhaften Prognosen führt, die für bestimmte Gruppen eher schlecht ausfallen könnten. Dies ist besonders problematisch, wenn die entsprechenden Gruppen bereits marginalisierten oder diskriminierten Bevölkerungsgruppen angehören. Es haben auch nicht alle Gruppen gleichermaßen Zugang zu den Technologien, was zu Problemen der Fairness und Zugangsgerechtigkeit führen kann.
Selbstbestimmung
Ethische Fragen bestehen auch bezüglich der Autonomie (Selbstbestimmung) in Bezug auf mHealth. Diese gehen weit über Fragen der Einwilligung hinaus. Wie verändern diese Technologien unser Selbstbild? Dieses Thema wirft wiederum Fragen darüber auf, wie Self-Tracking und Datafizierung Diskurse darüber prägen, was „gesund“ oder „normal“ bedeutet, wer für das Management unserer Gesundheit zuständig sein sollte und ob der Fokus auf Effizienz nicht auch seinen Preis hat. Werden die Technologien von den persönlichen Erfahrungen und dem Wissen der Nutzenden über den eigenen Körper beeinflusst, oder werden sie als überlegen angesehen und das Wissen der Nutzenden missachtet? Wie sollen Ärztinnen mit Patientinnen umgehen, die durch Tracking-Technologien ein neues Maß an Wissen über sich selbst und damit Fachkenntnis erwerben? Vielleicht lenkt ein Ethos der Selbstoptimierung, das manchmal von Befürwortern des Ideals einer personalisierten Medizin propagiert wird, von den tatsächlich ausschlaggebenden Faktoren für Gesundheit und Krankheit in unserer Gesellschaft ab, die da wären: Armut, Ungleichheit, Sucht und Mangelernährung.
Wenn wir den Blick von der individuellen Perspektive zu einer öffentlichen und sogar globalen Gesundheitsperspektive herauszoomen, ergeben sich weitere ethische Fragen, beispielsweise in Bezug auf den globalen Zugang zu Technologie, die digitale Ungleichheit, die Auswirkungen von mHealth-Technologien in Gegenden ohne voll funktionierendes Gesundheitssystem und viele andere. Diese Fragen anzugehen bedeutet auch, sich mit Problemen der globalen Gerechtigkeit auseinanderzusetzen und sich der Art und Weise zu stellen, in der die (Kolonial-)geschichte bestimmte Perspektiven und die Kategorien in Teilen mitgeprägt hat, mit denen die Auswirkungen von mHealth-Technologien beschrieben werden.