mHealth, Gesellschaft und Ich

Wie verändert mHealth unser Gesundheits­wesen?

In unserem Gesundheitswesen ist es bisher üblich, dass Ärztinnen den Patientinnen medizinische Produkte, Verfahren oder Technologien verschreiben und die Kosten dafür von den öffentlichen oder privaten Krankenversicherungen übernommen werden. Dieser Prozess wird jedoch durch die wachsende Verbreitung von mHealth-Technologien „entinstitutionalisiert“, d. h. er verschiebt sich zunehmend aus dem traditionellen, etablierten und solide regulierten Gesundheitssystem heraus. Statt dass Ärzte ihren Patienten mHealth-Technologien verschreiben, können Nutzerinnen diese nun einfach außerhalb der Strukturen des etablierten Gesundheitswesens erwerben und verwenden. Bislang sind zahlreiche dieser Technologien kostenlos erhältlich. Bei vielen davon unterliegt jedoch die Qualität keinerlei Kontrolle, da sie als „Lifestyle-Produkte“ eingestuft werden und keiner Regulierung bedürfen. Es lässt sich jedoch bei vielen Apps oder Wearables gar nicht klar erkennen, ob es sich um ein reines „Lifestyle-Produkt“ handelt, das frei vermarktet und beworben wird, oder um ein geprüftes Medizinprodukt, das deutlich strengeren Vorschriften unterliegt (s. Was sind Gesundheits-Apps?). Einige Smartwatches haben zum Beispiel eine eingebaute EKG-Funktion und manche Gesundheits-Apps werden vermarktet, dass sie dabei helfen können Krankheiten zu „diagnostizieren“. Das macht es für die Nutzer schwierig, zwischen Produkten zu unterscheiden, die zuverlässig sind und strengen Kontrollen unterliegen, und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist. Diese Entwicklungen werden zunehmend von den Akteurinnen des traditionellen Gesundheitswesens erkannt, weshalb sie darum bemüht sind, den Bereich der digitalen und mobilen Technologien aktiv mitzugestalten. Beispielsweise sieht das Digitalisierungsgesetz in Deutschland (das Digitale Versorgungs-Gesetz) vor, dass von Ärzten empfohlene Apps in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen werden. Damit sind Ärztinnen dann in der Lage, Apps zu verschreiben.

Individuali­sierung in der Gesundheits­versorgung

Die Digitalisierung und der verstärkte Einsatz von mHealth in verschiedenen medizinischen Kontexten führt zu einem Transformationsprozess in der medizinischen Versorgung. Dies hat zur Folge, dass der Umgang mit Gesundheit und Krankheiten zunehmend als die persönliche Verantwortung jedes Einzelnen angesehen wird und auch erwartet wird, dass Personen mHealth zur gesundheitlichen Selbstoptimierung verwenden. Ulrich Bröckling (2007) nennt dies das „Unternehmerische Selbst“.1 Im Kontext der Gesundheitsvorsorge bedeutet dies, dass auch das „Gesundheitsmanagement“ zunehmend beim Einzelnen selbst liegt, wie dies auch in anderen Lebensbereichen gilt. Diese Entwicklungen können aus ethischer Sicht einerseits positiv bewertet werden, bergen andererseits aber auch neue Fragen und Herausforderungen (siehe Ethik von mHealth).

Digital engagierte Patienten

Der Einsatz von mHealth-Technologien, wie zum Beispiel Sensoren oder Apps, nimmt einen immer größeren Teil des Krankheitsmanagements ein, beispielsweise zur Selbstversorgung bei chronischen Krankheiten wie Diabetes Typ 1 oder Parkinson, zur Verfolgung von Symptomen oder der Verwaltung von Medikamenten. Mit diesem verstärkten Einsatz von mHealth-Technologien im Krankheitsmanagement treten auch neue Akteure in den Gesundheitskontext ein, die im Gesundheitssystem bisher eine marginale oder gar keine Rolle gespielt haben, zum Beispiel gewinnorientierte Unternehmen aus der IT-Branche. Sie bieten mHealth-Technologien an, die dieselben oder vergleichbare Funktionen wie herkömmliche medizinische Produkte bieten und ähnliche Daten erheben wie dies im medizinischen Kontext geschieht, jedoch nicht immer an dieselben Datenschutzbestimmungen gebunden sind wie zum Beispiel stark regulierte medizinische Produkte. Dieser Umstand wirft viele Fragen auf, zum Beispiel wie solche Unternehmen mit den von ihnen gesammelten Daten umgehen (siehe Datenschutz und Ethik). Viele IT-Unternehmen arbeiten inzwischen auch mit Pharmakonzernen zusammen. Beispielsweise kooperieren Dexcom und Fitbit im Rahmen von Diabetes-Technologieentwicklung.2

Inzwischen kommt auch den Patienten und Patientinnen eine neue Rolle im Gesundheitssystem zu. Die Zunahme von mHealth-Technologien gibt ihnen die Möglichkeit, aktiver an ihrer eigenen Gesundheitsversorgung mitzuwirken (siehe Individualisierung der Gesundheitsversorgung). Sie werden mehr und mehr dazu ermutigt, mHealth-Technologien für ihre Selbstversorgung und zur Überwachung krankheitsbezogener Aspekte ihres Lebens zu nutzen. Die Soziologin Deborah Lupton nennt Patienten, die sich aufgrund von mHealth-Technologien in dieser aktiveren Rolle befinden „digitally engaged patients“ („digital engagierte Patienten“).3 Durch den leichteren Zugang zu medizinischem Wissen werden Patienten nicht mehr als „passive recipients of care“ („passive Versorgungsempfänger“)2 wahrgenommen, sondern können aktiver an der Gestaltung ihrer Gesundheitsversorgung teilnehmen. Diese Entwicklung wird auch durch Social-Media Vernetzungen, beispielsweise in Facebook-Gruppen, über geografische Grenzen hinweg beschleunigt.

Wer ist der Experte?

Während es im traditionellen Gesundheitssystem eine relativ klare hierarchische Beziehung zwischen Ärztinnen und Patienten gibt, wandelt sich diese Beziehung durch mHealth, das Internet und Social-Media-Plattformen. Ärzte und andere medizinische Fachkräfte sind nicht mehr die einzigen oder primären Akteure mit medizinischem Wissen. Während medizinisches Wissen früher schwer zugänglich war und vor allem durch ein Medizinstudium oder eine medizinische Ausbildung erworben wurde, ist es heute für viele Menschen einfacher, Zugang zu komplexen und spezialisierten medizinischen Informationen zu erhalten. Soziologinnen sprechen in diesem Zusammenhang von „Biomedikalisierung“. Dies bedeutet, dass biomedizinisches Wissen in der Alltagsgesellschaft immer präsenter wird. Damit einher geht auch eine Verschiebung des Fachwissens. Das Wissen, das der Einzelne in diesem Prozess erwirbt, ist eine Verflechtung von Informationen aus verschiedenen Quellen: beispielsweise Aufzeichnungen von Körperfunktionen aus Tracking-Apps, Diagnosen, die von Diagnose-Apps generiert werden, oder Erfahrungen anderer Patienten aus Online-Selbsthilfegruppen. Für Ärztinnen könnte es immer wichtiger werden, einen Umgang mit dieser neuen Form des Patientenwissens zu erlernen und ihre eigene Rolle in der digitalisierten Gesundheitsversorgung zu überdenken.

Gerade im Kontext chronischer Erkrankungen ist mHealth sehr beliebt, da es Patienten ermöglicht, eine noch aktivere Rolle im Management ihrer Krankheit zu spielen. Es gibt Apps, die an die Einnahme von Medikamenten erinnern, Krankheitsnebenwirkungen können damit dokumentiert werden, und einige Körperwerte können mit mHealth-Technologien, wie zum Beispiel Sensoren, bereits von Patientinnen selbständig gemessen werden.

Wie wirkt sich mHealth auf mich aus?

Wie wirkt sich mHealth auf mich aus? Wer sich ein Wearable kauft, beispielsweise mit Schrittzählerfunktion, erwartet vermutlich, dass man mehr Wissen und Informationen über den eigenen Körper bekommt, und dass dies letztlich der eigenen Gesundheit zugutekommt. Man weiß nun, welche Strecke man pro Tag zurückgelegt haben, oder man kann sich per Mausklick eine Kurve über die wöchentlichen Aktivitäten einschließlich der eigenen Herzfrequenz anzeigen lassen. Durch technische und digitale Visualisierungen können nun Körperwerte, die bisher nicht ohne weiteres zugänglich waren, sichtbar gemacht und in Form von Grafiken und Statistiken dargestellt werden.6

Die soziologische Betrachtung von mHealth setzt sich mit dem Umstand auseinander, dass Tracking-Apps Werte nicht nur passiv erfassen und bereits vorhandene Werte (zum Beispiel Blutzuckerwerte oder zurückgelegte Schritte) sichtbar machen, sondern dass dabei auch deutlich tiefgreifendere Prozesse ablaufen: Durch die Generierung und das ‚Sichtbarmachen‘ von körperbezogenen Daten kann mHealth sogar das Denken über den eigenen Körper und die eigene Gesundheit beeinflussen, wodurch bestimmte Normen, Werte und Verhaltensweisen erst neu entstehen können.

Zum Beispiel können Personen ihre wöchentlichen Schritte als „Linien“ und „Kurven“ sehen, wenn sie eine Fitness-Tracking-App nutzen, die diese in einer Grafik darstellt. Vor mHealth waren Schritte und Bewegungsmuster rein körperliche Erfahrungen, die nun aber zu etwas Neuem werden: Sie können nun auch in Linien und Kurven „gedacht“ werden. Diese neue Art, über den eigenen Körper und die eigene aktive Betätigung zu denken, kann dazu führen, dass man sich mit der Zeit auch anders verhält als ohne mHealth.

Beispiele:

Smith und Vonthethoff (2015) zeigen anhand einer empirischen Untersuchung,7 dass Anhänger der Quantified-Self-Bewegung in Australien den von ihren Tracking-Apps generierten Daten mehr Verlässlichkeit und ein besseres Verständnis des eigenen Körpers zuschreiben als dem eigenen Körperempfinden.8 Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch Kaiton Williams (2013), der selbst eine App zur Gewichtsabnahme testet: Er konnte anhand seiner eigenen Erfahrungen zeigen, dass ihm die Daten nicht nur zuverlässiger erschienen als sein eigenes Körperempfinden, sondern dass sie bei ihm einen höheren Stellenwert als seine Körperempfindungen einnahmen. Als er zum Beispiel sah, dass seine Proteinaufnahme geringer war als von der App vorgeschlagen, fühlte er sich auch direkt schwach. Seiner Ansicht nach entstand dieses Gefühl als Folge der von der App gelieferten Informationen und nicht aus seinem tatsächlichen körperlichen Zustand.9

Macht uns mHealth zu Cyborgs?

Cyborgs kennen wir vor allem aus Science-Fiction-Büchern und -Filmen als Hybrid aus einem lebenden Organismus und einer Maschine. Der Name setzt sich aus den englischen Begriffen „cybernetic“ und „organism“ zusammen. Das Bild des Cyborgs wird oft als Metapher für die heutige Einbindung der digitalen Technik in unseren Alltag verwendet. Eines der prominentesten Beispiele für die Verwendung von Cyborgs zur Beschreibung sozialer Prozesse stammt aus dem Werk der US-amerikanischen feministischen Wissenschaftlerin Donna Haraway. Für sie stellen Cyborgs eine passende Metapher für die Verflechtung von Mensch und Technik dar:

„Hybrid of machine and organism, creatures of both social reality and fiction.“ 10
(Deutsch: Hybride aus Maschine und Organismus, Geschöpfe der gesellschaftlichen Realität und Fiktion zugleich)

Im Kontext von mHealth beschreibt die Soziologin Deborah Lupton die Beziehung zwischen Nutzerinnen und Technologie als „digital cyborg assemblage“. Bei Cyborgs denkt man vielleicht an Inspector Gadget, dessen Rückgrat zum Hubschrauber wird und dessen Hände sich in alle möglichen Werkzeuge verwandeln können. Aber digitale Cyborg-Assemblagen entstehen bereits, wenn Menschen mit digitalen Technologien interagieren. Im Kontext von Medizin und Gesundheit lässt sich beispielsweise bei der digitalen Überwachung von Körperfunktionen an eine Cyborg-Assemblage denken. mHealth Technologien können die Fähigkeiten des Körpers in besonderem Maße erweitern, indem sie Daten über körperliche Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen generiert. Diese Daten ermöglichen es dem Nutzer, sich selbst in unterschiedlicher Weise zu verbessern. (siehe Individualisierung der Gesundheitsversorgung).

  1. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Berlin: Suhrkamp Verlag.
  2. https://investor.fitbit.com/press/press-releases/press-release-details/2017/Fitbit-and-Dexcom-to-Develop-Continuous-Glucose-Monitoring-CGM-Experience-for-People-Living-with-Diabetes/default.aspx
  3. Lupton, Deborah (2013):The digitally engaged patient: Self-monitoring and self-care in the digital health era. Social Theory & Health 11, 256–270.
  4. Lewis, D. and Leibrand, S. (2016) Real-World Use of Open Source Artificial Pancreas Systems, Journal of Diabetes Science and Technology 2016, 10, 6, 1411
  5. Clarke, Adele; Shim, Janet K.; Mamo, Laura; Fosket, Jennifer Ruth; Fishman, Jennifer R. (2003): Biomedicalization: Technoscientific Transformations of Health, Illness, and U.S. Biomedicine. American Sociology Review 68 (2), S. 161-194.
  6. Lupton, Deborah (2013b): The digitally engaged patient. Self-monitoring and self-care in the digital health era. Social Theory & Health 11 (3), S.256-270.
  7. The Quantified Self Movement is, according to its own description, a group of users of various self-measuring devices and software. Its aim is to gain new and better insights into their bodies through quantification http://quantifiedself.com/about latest access: 13.01.2018.
  8. Smith, Gavin; Vonthethoff, Ben (2015): Health by numbers? Exploring the practice and experience of datafied health. Health Sociology Review 26 (1), S.6-21.
  9. Williams, Kaiton (2013): The weight of things lost: self-knowledge and personal informatics. Paris: CHI 2013.
  10. Haraway, Donna (1995): Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften. In: Hammer, Carmen/Stieß, Immanuel (Hrsg.): Die Neuerfindung der Natur.
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