Gleicher Zugang zu mHealth-Technologie?
Dietmar ist pensionierter Witwer. Er hat früher auf dem Bau gearbeitet, wurde aber wegen eines chronischen Rückenschadens in den Vorruhestand geschickt. Er hat keine großen Ersparnisse. Daher lebt er hauptsächlich von seiner staatlichen Rente. Er besitzt einen Peugeot 206 aus dem Jahr 2004, den er nicht oft benutzt, der ihm aber ein Gefühl von Freiheit gibt. Er hat ein Smartphone, das er vor allem verwendet, um auf seinem Balkon Patiencen zu spielen.
2018 war ein schlimmes Jahr für Dietmar. Sein Hund Bärbelchen ist gestorben. Bei Dietmar wurde Hüftarthrose diagnostiziert und er musste sich einer Hüftoperation unterziehen. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, fing sein alter Peugeot an, seltsam klappernde Geräusche von sich zu geben; die Gleichlaufachse musste erneuert werden ebenso wie der Antriebsriemen. Die Kosten: 1.200 Euro. Zum Glück konnten ihm seine beiden Kinder (Paula und Anders) finanziell unter die Arme greifen, aber Dietmar möchte sich nicht finanziell von ihnen abhängig machen, auch wenn sie es sich gut leisten können.
Dietmar hat nicht viel Geld zur Verfügung, aber er ist nicht unzufrieden. Nachdem er seine Miete und sonstigen regelmäßigen Ausgaben bezahlt hat, bleiben ihm 375 Euro im Monat. Davon legt er jeweils 150 für allfällige Kosten, Benzin und seltene Anschaffungen wie Kleidung beiseite. So bleiben ihm pro Tag etwa 7,50 Euro übrig, was Dietmar in Ordnung findet. Er macht es sich zum Sport, beim Einkaufen immer genau diesen Betrag auszugeben und geht manchmal drei oder vier Mal pro Tag in verschiedene Geschäfte.
Dietmar erholt sich langsamer von seiner Hüft-OP als erwartet. Er weiß, dass er sich mehr bewegen müsste, kann aber die Disziplin nicht aufbringen. Letztes Jahr wurde er von einem Physiotherapeuten behandelt, einem jungen Mann namens Jan. Dietmar mochte Jan nicht besonders, und er lässt sich nicht gerne von einem Jungspund sagen, was er tun soll. Aber die Physiotherapie-Sitzungen schienen doch zu helfen. Leider hat seine Versicherung nur acht Sitzungen übernommen. Glücklicherweise, so erzählt ihm der Physiotherapeut, kooperiert die Praxis mit einer Gesundheits-App-Firma. Die App überwacht den Fortschritt und schlägt jeden Tag neue Übungen vor. Das Abo kostet „nur“ zehn Euro pro Monat, so versichert der Physiotherapeut Dietmar, oder wie er es freundlich ausdrückt: „So viel wie jede Woche einmal Kaffeetrinken gehen!“ In diesem Moment fühlt sich Dietmar, als lägen Welten zwischen ihm und Jan.
Diskussion: Gleicher Zugang zu mHealth-Technologie?
Wenn es um Armut und einen ungleichen Zugang zu Technologie geht, sind die Unterschiede oft graduell: Es ist nicht so, dass Dietmar sich die von Jan vorgeschlagene App gar nicht leisten kann. Aber durch den Kommentar, dass zehn Euro im Monat ja ein vernachlässigbarer Betrag seien, fühlt sich Dietmar vor den Kopf gestoßen. Im Gegensatz zu Jan müsste er auf andere Dinge verzichten, um die App bezahlen zu können. Die implizite Annahme, dass jeder genug Geld hat, um sich jederzeit unterwegs einen Kaffee zu kaufen, ärgert Dietmar, der so sehr darauf achtet, sich im Rahmen seines 7,50-Euro-Budgets zu bewegen.
Neben dieser persönlichen Differenz geht es hier um eine ethische Frage: Inwieweit sollte Gesundheitspersonal davon ausgehen, dass kommerzielle Gesundheits-Apps als eine Art Erweiterung der angebotenen Versorgung dienen? Jans Angebot erscheint auf den ersten Blick als gut gemeinter Ratschlag. Aber da er von einer medizinischen Fachkraft kommt, übt er auch ein Stück weit Druck auf den Patienten aus. Dietmar wird sich wahrscheinlich nicht für die vorgeschlagene App entscheiden. Aber vielleicht fühlt er sich auch deshalb schlecht – und es braucht vermutlich noch länger, bis er sich von der OP erholt. Möglicherweise gibt sich Dietmar am Ende selbst die Schuld dafür, dass er nicht stark genug ist, sich zum Training zu motivieren, wodurch sich sein Gefühl der Unfähigkeit noch weiter verstärkt, was sich kontraproduktiv auf die weitere Genesung auswirkt.
Somit lässt sich selbst in einem relativ egalitären Land beobachten, wie die unbedachte Einführung von Technologien zu ungleichen Ergebnissen führen kann.
In den meisten Ländern werden mobile Gesundheitstechnologien nicht standardmäßig von den Krankenkassen erstattet. In Deutschland besteht seit 2020 die Möglichkeit, Apps über die Krankenkasse abzurechnen, allerdings sind bisher nur sehr wenige Apps dafür zugelassen.
Literatur
Nadine Bol, Differences in mobile health app use: A source of new digital inequalities? Ruger, Jennifer Prah. “Ethics of the social determinants of health.” The Lancet 364.9439 (2004): 1092-1097.
Quelle
This case is mostly fictitious, specifically, although there exist physiotherapy apps, most of those are ‘free’. ‘Dietmar’ may encounter a physiotherapist who recommends such an app – but currently there is little chance of him having to pay anything for this (see however this app this app for a paid-for medical application that is being used in close collaboration with physicians). Since ‘free’ software in the medical context comes with its own problems, however, the developments may very well be moving towards more paid-for apps such as described in this case.- https://www.divsi.de/publikationen/studien/divsi-umfrage-gehen-internet-nutzer-deutschland-mit-agb-und-datenschutzbedingungen-um/agb-lesertypen-nichtkaum-lesen-vs-genaudetailliert-lesen/
- https://www.nytimes.com/interactive/2019/06/12/opinion/facebook-google-privacy-policies.html?action=click&module=Opinion&pgtype=Homepage