Alex

Süchtig nach einer App?

Alex ist ein hochqualifizierter Berater in einem multinationalen Unternehmen, das sich auf Digitalisierung und Biotechnologie spezialisiert hat. Er nähert sich dem Höhepunkt seiner Karriere und ist bestrebt, die sich ihm bietenden Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Alex ist alleinstehend. Bis vor einem Jahr lebte er mit seiner ersten Liebe aus der Schulzeit zusammen, aber sie hatten sich auseinandergelebt. Sie warf ihm vor, gleichzeitig abwesend und dominant zu sein, und er war der Meinung, sie beschwere sich zu viel und trete in der Öffentlichkeit zu schüchtern auf. Als Alex jünger war, war er ein passionierter Tischtennisspieler, schaffte es sogar bis zur deutschen Auswahl. Inzwischen träumt er vom Vorruhestand. Er würde gerne nach Portugal ziehen und vielleicht nebenberuflich Tauchkurse geben.

Im Zuge der Gesundheitsstrategie des multinationalen Unternehmens erhalten alle Mitarbeiter zu Beginn eines neuen Jahres eine E-Mail mit motivierenden Ideen für einen gesünderen Lebensstil. Es geht um Ernährung, Gewicht, Bewegung und die Reduzierung von Tabak- und Alkoholkonsum. In der E-mail sind verschiedene unterstützende Apps angegeben. Alex und seine Kollegen erfahren von einer App, die körperliche Aktivität aufzeichnet und mit der man Wettbewerbe mit seinen Freunden veranstalten kann. Sie beschließen, eine einmonatige Challenge zu machen und melden sich bei der App an. Die Idee ist, Punkte durch einfache Aktivitäten wie Gehen und Radfahren zu sammeln (abgestimmt auf Körpergewicht, Geschlecht, Alter und weitere Variablen). Es gibt Bonuspunkte für „hochintensive Workouts“. Damit nicht geschummelt wird, registriert die App Bewegung, Herzschlag und Schweißbildung. Der Gewinner (der die meisten Punkte erreicht) wird zur/m „Held/in des 7. Stocks“ gekrönt und mit einem Abendessen in einem Michelin-Sternerestaurant belohnt. Jeden Tag werden die Ergebnisse auf einem großen Bildschirm im Besprechungsraum angezeigt, und natürlich kann jeder den Wettbewerb auch auf seinem eigenen Smartphone oder Tablet verfolgen. Alex hat eine sehr wettweberbsorientierte Persönlichkeit. Er hat großen Spaß an der Sache und ist schnell unter den ersten drei. Die anderen beiden sind Paula, eine fanatische CrossFitterin, und Susanne, die früher an Triathlons teilgenommen hat. Alex vermutet, dass die App Frauen bevorteilt, und er will keinesfalls gegen zwei „Mädchen“ verlieren. Deshalb strukturiert er seinen Tag so, dass er möglichst viele Punkte sammeln kann (wobei andere Aufgaben zunehmend auf der Strecke bleiben). Er möchte unbedingt gewinnen, merkt aber, dass er weiter zurückfällt.

Deshalb beschließt er, extra nachts zwischen 3 und 4 Uhr für einige hochintensive Trainingseinheiten aufzustehen, um mehr Punkte zu sammeln. So bringt er es zu einer großen Menge an Punkten, denn je intensiver das Training und je mehr Ruhephasen man vor und direkt nach dem Training hat, desto mehr Punkte erhält man. Ein offensichtlicher Nachteil ist, dass er um 4 Uhr morgens hellwach und stark schwitzend im Bett liegt. Doch innerhalb weniger Tage überwindet er auf diese Weise seinen unüberwindbar geglaubten Punkte-Rückstand. Am Ende gewinnt er.

Diskussion

Wann wird ein Verhaltensmuster zu einer Sucht? Wann sind Apps eher schädlich als nützlich, weil sie Suchtverhalten fördern? Fragt man Alex, erhält man wahrscheinlich die Antwort, dass die App ihm hilft, seine persönlichen Entscheidungen und Ziele umzusetzen, dass er unbedingt gewinnen will und einiges dafür in Kauf nimmt, seine Ziele zu erreichen. Vielleicht geht es Alex tatsächlich ‚gut‘ dabei. Das hängt zum Teil davon ab, ob und wie er die App weiter nutzt, nachdem der Druck des Wettbewerbs vorüber ist. Sein tägliches Funktionieren scheint jedoch deutlich dadurch beeinträchtigt zu sein, und selbst wenn der Wettbewerb für Alex nur ein Spiel war, scheint es plausibel, dass Apps, die diese Art von Verhalten fördern, auch gewisse Risiken bergen. Es bestehen die oben erwähnten sozialen und psychologischen Risiken. Ein so intensives Training birgt aber auch andere Risiken, zum Beispiel hinsichtlich Übertraining und Dehydrierung, besonders, wenn die betroffene Person kein professioneller Sportler ist und nicht von einem Expertenteam unterstützt wird.

Hier kommt also die Frage auf, ob App-Entwickler oder sogar politische Entscheidungsträger die Pflicht haben, Suchtverhalten und die damit verbundenen Risiken zu berücksichtigen.

Literatur

Keane, Helen. What’s wrong with addiction?. Melbourne University Publish, 2002.

Choliz, Mariano. „Mobile phone addiction: a point of issue.“ Addiction 105.2 (2010): 373-374.

Szasz, Thomas S. „The ethics of addiction.“ American journal of psychiatry 128.5 (1971): 541-546.


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