Ayaan

Invasivität von mHealth-Technologie

Ayaan ist Managerin in einem großen Kaufhaus. Sie und ihr Mann Tim haben zwei kleine Kinder. Tim kümmert sich hauptsächlich um den Haushalt. Trotzdem hat Ayaan kaum Zeit, denn sie möchte auch Sport treiben (Schwimmen und Kickboxen) und sich regelmäßig mit ihren Freunden treffen.

In letzter Zeit fühlt sie sich zu ihrem eigenen Erstaunen immer müder, manchmal döst sie sogar bei langweiligen Arbeitsbesprechungen ein.

Deshalb kauft sie sich ein Schlaf-Wearable namens Sleep Accountant, welches sie nachts an ihrem Handgelenk trägt und das ihr Schlafverhalten und ihre Herzfrequenz überwacht und ob sie Schnarchgeräusche von sich gibt. Da sowohl Ayaan als auch Tim gelegentlich schnarchen, verfälscht Tims Schnarchen ihre Daten.

Bild eines Bettes
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Zunehmend hat Ayaan das Gefühl, dass der Sleep Accountant ihr nicht wie erhofft mehr Möglichkeiten bietet, sondern ihr Leben bestimmt. Wenn sie zum Beispiel nicht um 22 Uhr im Bett ist, sendet der Sleep Accountant ihr ein ziemlich nerviges, hochfrequentes Warnsignal. Dies ist eine Standardeinstellung, die sie ändern könnte, aber sie zögert, weil sie sich eigentlich nach der „gesunden Norm“ verhalten möchte. Der Sleep Accountant sagt ihr auch, dass sie ihren „Schlafdefizit-Prozentsatz“ unter fünf Prozent bringen sollte, was sie unter der Woche kaum erreicht, besonders weil sie anscheinend nicht genug „Tiefschlaf“ bekommt. Wenn die App bemerkt, dass Ayaan nicht gut schläft, fragt sie nach, was los ist: Hat sie Stress am Arbeitsplatz, hat sie zu viel Kaffee oder Alkohol getrunken, trainiert sie genug? Ayaan versucht, immer wahrheitsgetreu zu antworten, aber manchmal vergisst sie, die Daten zu aktualisieren.

Später entwickelt Ayaan Kopfschmerzen, weswegen sie manchmal nicht zur Arbeit gehen kann. Sie entdeckt, dass der Sleep Accountant eine Funktion hat, mit der sie auch die Kopfschmerzen protokollieren und ihre Daten mit denen von 500.000 anderen Benutzern des Sleep Accountant abgleichen kann. Laut dem Sleep Accountant sollte sie Vitaminpräparate nehmen und mehr Avocado essen – obwohl sie Avocado eigentlich nicht mag. Die schiere Menge an Daten, die der Sleep Accountant über sie gesammelt hat, vermittelt Ayaan den Eindruck, sie sei in guten Händen. Als Tim vorschlägt, sie solle einen Arzt aufsuchen, weist sie ihn deshalb mit folgenden Worten ab:

„Der Sleep Accountant mag manchmal nervig sein, aber es weiß mehr über mich als ein Arzt, der mich höchstens alle zwei Jahre mal sieht.“

Diskussion: Invasivität von mHealth-Technologie

Vielleicht hat Ayaan recht: Auch Ärzte machen Fehler und leiden manchmal unter Schlafmangel, genau wie Ayaan selbst. Es kann also tatsächlich sein, dass Ayaan von ihrem Sleep Accountant zuverlässigere Informationen erhält als von einer Ärztin. Andererseits mag es ein Fehler sein, sich auf die schiere von der App gesammelte Datenmenge zu verlassen. Die Methode, große Datenmengen zu vergleichen, kann in manchen Fällen ein sehr effektiver Weg sein, auffällige Werte zu erkennen. Die Interpretation solcher Daten ist jedoch eine andere Geschichte, und mindestens in manchen Fällen wird selbst ein übermüdeter Arzt noch eine deutlich zuverlässigere Diagnose stellen als jedes aktuell erhältliche KI-System. Und das gilt im besten aller Fälle, nämlich wenn die von mHealth-Technologien gesammelten Daten korrekt sind. Wir haben aber bereits gesehen, dass Tims Schnarchen die Aufzeichnung von Ayaans Daten stört, so dass die Werte vielleicht nicht annähernd so zuverlässig sind, wie Ayaan denkt.

Zusätzlich zur Störung durch Geräusche haben Schlaf-Apps Schwierigkeiten, Daten von Nutzenden, die still im Bett liegen, aufzuzeichnen und zu interpretieren. Dadurch wird die Schlafdauer der Nutzenden oft überschätzt.

Eine unzuverlässige App oder ein Wearable muss nicht per se ethisch problematisch sein, selbst in Bezug auf Gesundheitsdaten. Die ständige Überwachung, das Feedback und die Auswirkungen, die es Ayaans Privatleben hat, sind jedoch derart invasiv, dass es in Kombination mit der mangelnden Zuverlässigkeit der Technologie mindestens ethische Fragen aufwirft. Ayaan ist sehr beschäftigt und sucht zunächst nur nach einer schnellen und einfachen technologischen Lösung, die ihr hilft, ihre Aufgaben zu bewältigen. Der Sleep Accountant bestimmt jedoch große Teile ihres Lebens, von ihren Schlaf- und Wachgewohnheiten über ihre Ernährung bis hin zu der Entscheidung, einen Arzt aufzusuchen oder nicht. Wenn all das unter dem potenziell falschen Anspruch objektiver Messungen geschieht, kommt die Frage auf, ob Ayaan hier nicht manipuliert wird. Darf der Sleep Accountant aus moralischer Sicht berechtigterweise einen so großen Teil von Ayaans Leben für sich beanspruchen? Sollte sie nicht besser darüber informiert werden, in welcher Hinsicht die Daten möglicherweise keine verlässlichen Aussagen zulassen? Hat eine App, die ständig nach Bestätigung verlangt, nicht etwas Suchterzeugendes an sich – und sollte dieser Suchtcharakter nicht irgendwie reguliert werden?

Literatur

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Lupton, D. (2013). Quantifying the body: monitoring and measuring health in the age of mHealth technologies. Critical Public Health, 23(4), 393-403.

Mai, J. E. (2016). Big data privacy: The datafication of personal information. The Information Society, 32(3), 192-199.

Ruckenstein, M., & Schüll, N. D. (2017). The datafication of health. Annual Review of Anthropology, 46, 261-278.

Schmietow, B., & Marckmann, G. (2019). Mobile health ethics and the expanding role of autonomy. Medicine, Health Care and Philosophy, 1-8.

Quelle

Both the unreliability and the invasive, counterproductive character of some sleep apps have been described, in academic and popular media. As far as we are aware, there are currently no health apps that combine the functions described in this case, although there exist applications that combine diagnostic function with functionality that helps structure one’s life, for example in the case of mental health apps (Link to Nature.com).


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