Verantwortung für die eigene Gesundheit
Clarissa, 24, ist hochmotiviert. Soeben hat sie ihr tägliches virtuelles Trainingsprogramm mithilfe ihrer Fitness-App absolviert. Sie lebt nach einem Motto, das angeblich von Bill Gates stammt:
„Du bist nicht schuld daran, wenn Du arm geboren wurdest, aber Du bist selbst schuld, wenn Du auch arm stirbst.“
Sie glaubt fest daran, dass Willenskraft, Motivation und den „inneren Schweinehund“ zu überwinden die wichtigsten Schlüssel zu Gesundheit und Fitness sind. Die App besitzt auch eine Social-Media-Funktion. Deshalb hat Clarissa inzwischen viele Freunde aus aller Welt, mit denen sie regelmäßig in Kontakt steht. Sie findet es toll, Menschen zu kennen, mit dem sie Tag und Nacht chatten kann, um ihre Erfahrungen über das Training, die Herausforderungen und Erfolge zu teilen. Durch den Austausch über die sozialen Medien hat sich sogar ihr Englisch verbessert. Dank der Chats und durch ihre täglichen Motivations-App-Übungen wird Clarissa immer klarer, dass sie mehr aus ihrem Leben machen will. Sie arbeitet als Krankenschwester und ist gelangweilt von den anderen Pflegekräften, die über Erschöpfung klagen und deren größtes Abenteuer es zu sein scheint, nach der Schicht Serien zu streamen. Das Startup-Team der App sucht nach Mitarbeitenden, die die App über Social Media vermarkten. Clarissa spürt, dass sie leidenschaftlich gerne in diesem Bereich arbeiten würde und kontaktiert das Team. Sie genießt es, in einer Zeit zu leben, in der sie dank mobiler Technologien und sozialer Medien gesund und sportlich durchs Leben gehen kann und der Verwirklichung ihrer eigenen Träume näherkommt.
Diskussion: Gesundheits-Apps, Verantwortung für die eigene Gesundheit und soziale Gerechtigkeit
Eigenverantwortung für die Gesundheit spielt bei der Vermarktung von Fitness-Apps eine wichtige Rolle. Selbst entscheiden zu können, wie man sich gesund hält und „die eigene Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen“, wird als erstrebenswert Sache dargestellt. Gemäß Clarissas Lebensmotto ist man nicht nur dafür verantwortlich, gesund zu leben, sondern man ist auch selbst schuld daran, wenn man es nicht tut.
Verantwortung und Schuld sind moralisch relevante Begriffe: Generell ist es moralisch empfehlenswert (und vielleicht auch moralisch geboten), Verantwortung zu übernehmen. Clarissa glaubt, dass es richtig ist, Fitness-Apps zu nutzen, um Verantwortung für einen gesunden Lebensstil zu übernehmen, und moralisch falsch, dies nicht zu tun.
Dieser Fall wirft Fragen nach der persönlichen Verantwortung für die eigene Gesundheit auf. Nicht alle Menschen würden Clarissa zustimmen. Es ist nämlich keineswegs eindeutig, wer die Verantwortung für die Gesundheit tragen sollte, ob jeder Mensch diese Verantwortung selbst tragen kann und soll, und wenn ja, in welchem Maße. Und sollte man wirklich von „Schuld“ sprechen, wenn jemand nicht in der Lage ist, bestimmte Gesundheitsziele zu erreichen?
Viele Menschen halten Gesundheit für fundamental erstrebenswert, um ein gutes und erfüllendes Leben zu führen.
Einerseits ist es begrüßenswert, wenn Menschen Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen. Dies kann zu einer Reduzierung von Schmerzen und Krankheiten, zu mehr Gesundheit und Fitness und zu einem insgesamt blühenden und positiven Leben beitragen. Körperliche Bewegung und ein gutes Empfinden für den Körper und seine Warnzeichen sind besonders wichtig für die Vorbeugung gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und andere Krankheiten. Wenn sich viele Menschen gesundheitsbewusst verhalten, wirkt sich dies auch positiv auf die allgemeine Gesundheit aus: Die Häufigkeit bestimmter Krankheiten nimmt insgesamt ab und damit sinken auch die Kosten im Gesundheitswesen.
Andererseits bedeutet Verantwortung zu übernehmen nicht, dass damit alles möglich oder erreichbar ist. Zum Beispiel wird nicht jeder mit den gleichen genetischen Voraussetzungen für ein gesundes Leben geboren. Überdies gibt es Umstände im Leben, auf die wir wenig Einfluss haben. Zum Beispiel besteht ein Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit. Dieser Zusammenhang ist komplex und hängt nicht nur mit den eigenen Entscheidungen und dem eigenen Verhalten zusammen. Stellen Sie sich Nadine vor, eine alleinerziehende Mutter, die einen unsicheren und unterbezahlten Job hat, in dem sie schlecht und respektlos behandelt wird. Die Kinderbetreuung ist ein Problem, weil sie manchmal auch abends arbeiten muss. Außerdem hat sie pflegebedürftige Eltern, die sie regelmäßig besuchen möchte. Nadine sieht es weder als ihre Priorität an, die Anweisungen ihrer Fitness-App zu befolgen, noch ist sie dazu in der Lage. Ob jemand die Möglichkeit hat, sich hochwertig zu ernähren, eine gute Arbeit zu bekommen, saubere Luft zu atmen oder einen positiven Stressausgleich zu finden, hängt unter anderem vom sozioökonomischen Status und den Lebensumständen ab. Viele Menschen können diese strukturell bedingten Lebensumstände auch mit Willenskraft und Motivation nicht ändern, und schon gar nicht mithilfe einer Gesundheits-App, die Willenskraft und Motivation unterstützen soll. Es handelt sich somit auch um ein Problem der sozialen Gerechtigkeit, wenn primär die Eigenverantwortung in den Vordergrund gestellt wird und die Lebensumstände kaum einbezogen werden. Die Chancen, gesund zu sein und zu bleiben, sind ungleich verteilt.
Problematisch ist auch, dass Gefühle und Erfahrungen von Schuld und Stigmatisierung entstehen können, wenn zu viel Fokus auf die Verantwortung für die eigene Gesundheit gelegt wird. Wenn jemand davon ausgeht, selbst für die Fitness und Gesundheit verantwortlich zu sein, gibt sich die Person vielleicht auch selbst die Schuld, wenn es nicht klappt. Die Social-Media-Funktionen der Apps können diese Schuldgefühle, Schuldzuweisungen und Stigmatisierungen noch verstärken. Das ist einem erfolgreichen Leben oder der psychischen Gesundheit kaum zuträglich. Wie gerade gezeigt, hat man es auch nicht immer in der Hand, bestimmte Gesundheitsziele so leicht zu erreichen wie vielleicht andere Menschen. Schuldgefühle und Stigmatisierung können somit die Situation eines ohnehin schon benachteiligten Menschen weiter verschlimmern.
Darüber hinaus wird auch immer wieder auf die Gefahren abnehmender Solidarität hingewiesen. Universelle Gesundheitssysteme beruhen oft auf dem Prinzip der Solidarität. Medizinische Behandlungen und Medikamente für Einzelne werden durch die kollektiv erwirtschafteten Mittel erstattet. Wenn sich jedoch der Gedanke durchsetzt, dass jeder Mensch für seine eigene Gesundheit verantwortlich ist, und dies noch durch die Nutzung von Gesundheits-Apps verstärkt wird, kann die solidarische Haltung gegenüber dem Nächsten vielleicht abnehmen. Warum sollte man für jemanden zahlen, der sich nicht selbst gekümmert hat? Schließlich gibt es, davon ist Clarissa überzeugt, Apps und eine Social-Media-Community, die es ganz einfach machen, gesund und fit zu bleiben. Aber auch hier hängt die Frage der Verantwortung für die eigene Gesundheit unter anderem davon ab, welche Chancen der einzelne überhaupt hat, sich um die eigene Gesundheit zu kümmern, und wie gerecht diese Chancen verteilt sind.
Literatur
Barry, B. (2005). Why social justice matters. Polity.
Lupton, D. (2013). Digitized health promotion: Personal responsibility for health in the Web 2.0 era.